Wien Museum

Impressionen aus der Sehstadt


„Die wirkliche Entdeckungsreise besteht nicht darin, neue Landschaften zu erforschen,

sondern darin, Altes mit neuen Augen zu sehen!“

MarcelProust


Mein Erweckungserlebnis

Tausende Male bin ich in den vergangen Jahren vor unserem Haus über einen Schachtdeckel der Heizbetriebe Wien (HBW) vulgo Fernwärme gegangen. Immer dabei die leicht irrationale, wenn auch nicht gänzlich abwegige Furcht, eines Tages meine Schlüssel darin zu versenken. In den mehr als 20 Jahren war es letztlich ein zu Boden gefallener Handschuh, der mir die Augen öffnete. Beim Aufheben kam ich dem Schachtdeckel näher denn je und musste zu meinem Erstaunen feststellen, dass er, eigentlich auch im Stehen schon gut lesbar, nicht mit "FERNWÄRME" beschriftet ist, sondern nur mit "FERWÄRME", es sich also quasi um einen Fehldruck handelt, der als Briefmarke oder Zigarrenbauchbinde viel Geld einbringen könnte.

Derart wachgerüttelt stellte ich mir die Frage, was ich denn bisher noch alles nicht gesehen habe, obwohl es bei genauem Hinsehen doch ganz offensichtlich gewesen wäre.


Nach etlichen Sehreisen zu Schachtdeckeln und Koindialn (Kellerfensterabdeckungen), zu Türen und Toren, Klinken und Klingeln, Ghostletters, aufgelassenen Geschäftslokalen, Kunst am Bau etc. pp, musste ich feststellen, dass all diese Themen schon mehr oder weniger ausgiebig bearbeitet worden sind, was meine Sammelleidenschaften zwar kaum bremste, aber ich wollte nicht anderen hinterher fotografieren.


Beim Sichten meiner Beute ist mir eines Abends aufgefallen, dass Unmengen an Geschäftslokalen teilweise wohl schon seit vielen Jahren mit Rollbalken in den malerischsten Phasen der Verwandlung verschlossen sind. Die ausführenden Schlosser, selten auch Tischler, haben ihre Visitenkarten auf Schlossabdeckungen und Plaketten hinterlassen. Hat man einmal einen Blick dafür entwickelt, findet man ein Vielerlei an Namen, Adressen, Formen, Telefonnummern und Figuren. Das Beste daran war aber, und hier waren die spärlichen Ergebnisse der Google-Suche hilfreich, dass sich bisher noch niemand intensiver mit diesen immer noch reichlich vorhandenen, wenn auch gefährdeten Bestandteilen des Stadtbildes auseinandergesetzt hat.



ANNO dazumal - vom Fluch und Segen der "guten alten Zeit"


ANNO, der "virtuelle Zeitungslesesaal der Österreichischen Nationalbibliothek", wurde schnell meine Hauptinformationsquelle.


Dieser Dienst ging im August 2003 online, heute kann man digital in 26 Millionen Seiten aus über 1.500 Titeln suchen, beginnend mit dem Jahr 1568. Aus urheberrechtlichen Gründen sind die meisten Ausgaben mindestens 70 Jahre alt; nach sich selbst zu suchen wird also für die meisten von uns noch nicht erfolgreich sein, bei den Ahnen könnte man allerdings schon fündig werden oder etwa bei Eingabe der Wohnadresse.


Doch Vorsicht! Der Besuch dieser Sammlung ist nur charakterlich gefestigten Personen zu empfehlen. Zum einen hat man sich beim Mäandern durch vermeintlich zielgerichtete Sucheingaben schnell viele Nächte um die Ohren geschlagen, eine sinnvolle Archivierung der Funde ist vom ersten Moment an zu empfehlen.


Zum anderen wurde in der "guten alten Zeit" über nahezu alles berichtet. Wer, wann wo mit wem an- oder abgereist ist. Wer wann woran verstorben, einschließlich Unfall, Selbstmord, Mord, in Insolvenz geraten ist oder über wen wegen "gerichtlich erhobenen Blödsinns" die Curatel verhängt wurde. Das ging soweit, dass es eine Meldung wert war, wenn ein Arbeiter beim Gehen im Betrieb gestürzt ist.


Bezüglich dieser Informationsflut bin ich zwiegespalten. Chelsea Manning meinte kürzlich in einem Interview, dass wir "in einem Zeitalter der radikalen Transparenz" lebten (Der Standard.at vom 25. 11. 2022). Diese Transparenz kann ich auf die Dauer meiner Forschung ausweiten, die sich über knapp 200 Jahre erstreckt. Das Leben der Menschen nicht nur dieses Zeitraumes wurde staatlicherseits nahezu lückenlos überwacht, penibel archiviert und schonungslos veröffentlicht, wir hingegen geben heute über Social Media freiwillig mehr her als uns recht sein sollte.


Letztlich bin ich aber natürlich auch ein Nutznießer, konnte ich doch neben reinen, kalten Fakten etliche Anekdoten und Begebenheiten ans Tageslicht bringen, die das Leben meiner "Forschungsobjekte" farbiger erscheinen lassen. Beifänge, u. a. zu hygienischen und medizinischen Belangen, sammle ich mit großer Begeisterung; sie stärken mich in der Überzeugung, dass das beste an der oft besungenen "guten alten Zeit" die Tatsache ist, dass sie vorbei ist.